Samstag, 30. Januar 2016

auf dem boden der tatsachen

Auf dem Boden der Tatsachen liegen Fusseln, die Reste von gelochtem Papier und insgesamt sicherlich eine halbe Tüte Müsli. Da bin ich also, seit über vier Monaten in dieser glorreichen, glänzenden, aufregenden Hauptstadt. Metropole. Mein (nicht mehr ganz) neuer IKEA-Schreibtisch hat die ersten Kratzer. Auf meinem kleinen Beistelltisch ist mir beinahe der Adventskranz abgebrannt, an den Fließen in der Küchenzeile klebt noch Tomatensoße. Und doch ist diese Wohnung meine Insel. Oder das Meer, in dem ich eine Insel bin. Wie auch immer. Es ist der einzige leuchtende Punkt in dieser im Winter trüb-grauen Stadt. Bis auf zwei Besuche bei meiner Lieblingstante, drei Theaterbesuchen und ein paar sit-ins bei meiner drei Türen weiter hausenden Kollegin habe ich allerdings auch noch nichts erlebt. Anstatt die Stadt und den Job und eventuelle neue Freunde zu genießen, kämpfe ich also. Mit mir, mit meinen Eltern, meinem Stolz und meiner Vernunft. Während vor einem Jahr die Idee, eine Kinderkrankenschwester zu sein, nämlich noch schön und interessant klang, frisst mich die Realität auf. Ein kleines Staubkorn in einem Mechanismus schlecht-gelaunter Menschen, unorthodoxer und unkreativer Prozesse und unchristlicher Arbeitszeiten. Ein junger Mensch der fehlgeleitet ist und sich inzwischen fragt, welche abnormale und nicht nachvollziehbare Gehirnwindung dafür verantwortlich ist, dass ich nicht einfach etwas aus den Bereichen gemacht habe, die mir Spaß machen. Fragen muss ich inzwischen nicht mehr, die Antwort kam angeflogen, präzise mein Butterbrot findend, wie eine in den Sturm gekommene Krähe, draufscheißend. Ich mochte die Idee. Die Idee eines guten, helfenden Menschens in einem guten, helfenden und bodenständigen Beruf. Das war wohl, bevor mir in mein zermatertes Hirn gepredigt wurde, ein Krankenhaus sei ein Wirtschaftsunternehmen, man könne nicht alles haben und wenn es uns Geld bringt, nehmen wir im Kauf, dass die Kinder kränker statt gesünder werden. Das war, bevor ich den Friedhof jeglicher Motivation und Inspiration sah. Den Bunker. Als Anlaufstelle für Flüchtlinge der nahe gelegenen Flüchtlingsunterkunft dachte ich, könnten wir richtig was ausrichten. Helfen. Doch anstatt dass sich das Leid teilt, weil ich versuche, mitzutragen, verdoppelt es sich. Auf allen Schultern. Die unmittelbare Verbindung zu Ausweglosigkeit, Angst, Krankheit und Verzweiflung direkt vor meiner Nase. Tag für Tag für Tag für - verdammte scheiße - Tag. Weil überall Mauern sind. Mauern und Steine und Stacheldrahtzäune und verdammte Knarren. Ich sehe Kollegen, die dafür gemacht sind. Kollegen, die in sich aufgehen, voller Motivation, Glück und Inspiration. Voller Zuversicht und Hoffnung. Kollegen, die nach dem Dienst ins Kino gehen oder davor ins Sportstudio. Die nach fünf Kollegen frischer aussehen, als Heidi Klum nach vier Stunden in der Maske. Und, oh Gott, ich beneide diese Kollegen. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass sie sich nicht ändern lassen von dem Haufen Scheiße, in dem wir knietief stehen und arbeiten. Sollen sie weiter an den Haufen flüssigen Edelnougat denken. Das tut allen gut. Ihnen, den Kindern und sogar der Institution - dem Wirtschaftsunternehmen Krankenhaus. Für mich ist das nichts. Entgegen aller Hoffnungen und Vermutungen bemerke ich, wie ich jeden Tag ein bisschen kleiner werde. Jeden Tag ein großes Stück von mir selber verliere. In mir tobt ein Kampf, wie ihn weder Hitler und Stalin, noch die IS und der Rest der Welt besser austragen könnten. Ein Konflikt. "Augen zu und durch - es sind nur drei Jahre" - und mich selbst ein bisschen verlieren, oder "Schmeiß alles hin" und alles verlieren, dass mir die süße Unabhängigkeit gebracht hat. Meine Wohnung, die Insel der Zuflucht. Finanziell auf eigenen Beinen stehen, niemandem Rechenschaft schuldig sein. Will ich das alles aufgeben? Zurück zu meiner Mutter, die ich sehr liebe - noch mehr allerdings, seitdem ich Herr über mein eigenes Leben bin? Doch vor allem: sich selber das Scheitern eingestehen, dass einen angrinst, als wäre es die Personifikation der schlimmsten Stiefmutter der Welt gepaart mit Freddy Krüger und Florian Silbereisen. Mein Vater hat mir letzte Woche einen gehörigen Vortrag gehalten. Er und Mama hätten schließlich auch eine Ausbildung gemacht in Bereichen, die nichts mehr mit ihrem Leben zu tun hatten. Arbeit sei immer ein Stück Selbstaufgabe, man gewöhne sich schon daran. Am schlimmsten allerdings war der Part, in dem er mir erklärte, dass alles nur mit meiner emotionalen Verkrüppelung zu tun hätte. So hatte er es bloß nicht formuliert. Er sagte so etwas wie "Wenn du die Last der Welt auf deine Schultern packst, kann der Job auch keinen Spaß machen". Er versuchte mich dazu zu überreden, alles zu ignorieren. Moralisch verwerfliche Methoden zu ignorieren. Nervenaufreibende Geschichten zu ignorieren. Diese blauen Flecke zu ignorieren. Und überhaupt, nach so kurze Zeit könne man noch keine Entscheidung treffen. Nein, Papa. Keine endgültige Entscheidung. Aber man kann definitiv feststellen, ob man das den Rest seines Lebens machen möchte, oder nicht. Und ich lehne höflich dankend ab. Ob jetzt oder erst in zweieinhalb Jahren, weiß ich noch nicht genau.

Mittwoch, 26. August 2015

Über die Kleinstadtlichkeit

Bis ich in ca. 3 Wochen umziehe, versuche ich, so viel Geld heranzuscheffeln, wir nur irgendwie möglich. Damit ich mich den ersten Monat in der Hauptstadt von veganer Cola und hippen Burgern ernähren kann.
Okay, nicht ganz. Ich muss von irgendwas meine Wohnung einrichten – aber das klingt immer so uninspiriert.
Ich arbeite also, und da ich in einem Kaff irgendwo im Nirgendwo in Sachsen lebe, arbeite ich auch irgendwo im Nirgendwo – ich der nächsten Kleinstadt. In einem Eiscafé. In so einem richtigen, etablierten, familienbetriebenen Eiscafé.

Oh, wie ich es liebe. Wir haben 12 Eissorten. Schoko, Vanille, Erdbeere – die Basics natürlich. Auch ab und an „fancy“ Sachen wie dunkle Schokolade, Pfefferminz und Pistazie.
NEIN, wir verkaufen kein veganes Eis. Und kein Gurkeneis. Oder Moscow Mule. Wir verkaufen nur das, was wir lecker finden. Wenn etwas leer ist, verkaufen wir gar nichts mehr.
Und nach einem Wochenende voller veganem Eis, Gurkeneis und anderen … „Krachern“, die ich in Berlin kosten durfte musste, war ich mehr als glücklich, Montag wieder den Laden zu betreten. 
Keine Ikea-Einrichtung. Kein Gurken-Eis. Überhaupt nicht hip. Einfach gemütlich, mit großartig-liebevollen Eisbechern, Kunden, die man jeden Tag sieht und meiner Chefin, die mich mit meinem Kopf voller Großstadt wieder herbe und derbe auf den Boden der Tatsachen bringt.

Und obwohl ich mich freue auf Toleranz, Weltoffenheit und Möglichkeiten – drei Dinge, die man in Sachsen eben nur bedingt findet, tut es so gut, ab und an hier zu sein. Weil dieses Café für mich all das ausdrückt, was zuhause ist. Ein bisschen verschoben, neugierig (Ich musste heute Kunden unauffällig folgen, weil ich herausfinden sollte, ob das die neuen Nachbarn sind), skeptisch – aber auf der anderen Seite eben bodenständig und liebevoll. Das ist Heimat, das ist das Dorf (oder eben die Kleinstadt), das ist Familie, der Boden der Tatsachen.


Jeden Tag muss ich das aber auch nicht haben, ne? 
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Montag, 17. August 2015

erwachsen werden. erwachsen sein. müssen.

Ich war die Letzte von uns.
Diejenige, die ihre Klausuren immer von Mama unterschreiben lassen musste. Bis zum Schluss.
Die Informationen über das Abitur mit Nachhause nehmen musste, anstatt sie vor Ort zu unterschreiben.
Diejenige, die im Italien-Urlaub ein Ginger Ale getrunken hat, statt eines Caipis.
Und trotzdem habe ich doch das gleiche geschafft, wie die anderen.
Klausuren schreiben, Prüfungen schreiben, Bewerben, die Zukunft planen. Arbeiten. Abitur machen. Erwachsen sein.

Es ist nicht so, dass ich mich jetzt besonders verändert fühle. Ich trage die gleichen Sachen, höre die gleiche Musik, fahre mit der gleichen Fahrkarte. Aber das Wissen, dass sich mit meinem Geburtstag in unserem Leben etwas verändert hat, ist gegenwärtig.

Ich war die Letzte. Die Kleinste. Die mit dem Muttizettel. Die, die aufgezogen wurde - nur aus Spaß natürlich. Die, die Mama anbetteln musste, die Asos-Schuhe mit ihrem Paypal-Konto zu bezahlen.
(Meine erste Aktion als 18jährige: Paypal-Konto anlegen)
Aber es war auch die Sicherheit da. Wir sind noch immer, wer wir sind. Ich muss noch immer an den Muttizettel denken. Trotz Abitur, Reifezeugnis und großer Freiheit hatte sich nichts geändert. Diesen einen Sommer lang.
Und nun, der Sommer wird bald vorbei sein, stehen wir da. Die anderen haben ihre Uni-Zulassungen. Wir suchen gemeinsam nach WGs, Wohnungen. Abschiedspartys von denen, die ins Ausland gehen. Wir haben keine Zeit mehr. Keinen Sommer mehr vor uns. Wir planen unsere Umzugswochenenden, wollen noch einmal einen Filmabend machen.

Und alles wird plötzlich so endgültig, wenn man in der Home-Abteilung beim TK Maxx steht. Alles wird endgültig, wenn man über Kaffee-Maschinen spricht. Und darüber, dass es ja Skype gibt - und dank meines Paypal-Kontos lassen sich auch Bahnfahrten schneller regeln.

Das sollte diese große Freiheit sein, die Möglichkeit, alles zu tun, wonach uns der Sinn steht. Stattdessen kommt sie daher mit Verantwortung, mit Verlusten und Verzweiflung. Mit nichts als Unsicherheit, Trauer und Nervosität.

Wir sind jetzt erwachsen. Wir müssen mit Problem dealen, an deren Existenz wir mit 16 nicht dachten. Wir können es nicht mehr lächerlich abtun mit einem "Lass du erstmal deinen Mietvertrag von Mama unterschreiben".

Ich war die Letzte.

Und jetzt sind wir groß. Heilige Scheiße.